Zehn Meter. Fünfzehn. Zwanzig. Immer weiter entfernt sich Lioba.
Wir sind auf dem Mittelaltermarkt in Prichsenstadt, begleiten meine Schwägerin mit ihrem Räucherschiff Sinnlich und ihre beiden jüngsten Söhne. Es ist Samstag Nachmittag. Bereits seit dem Morgen ist Lioba unterwegs; mit mir, mit ihren beiden großen Cousins und ihrer Tante Beate.
Ich beobachte aus der Ferne
Das Räucherschiff steht perfekt, genau am Eingang des Ackers, auf dem weitere Handwerker ihre Ware anbieten und mehrere Lager das mittelalterliche Leben darstellen. Genau vor uns liegt der sehr breite Weg, der uns einen Blick bis ans Ende des Markts gewährt, wo die Strohburg für die Kinder steht.
Nicht nur ich habe Lioba im Blick. Den ganzen Tag über taucht immer wieder Elia auf. Der große Cousin ist mit seinen fast sieben Jahren ein erfahrenes Markt-Kind. Immer wieder nimmt er Lioba an die Hand, rennt um sie herum, treibt Späße mit ihr oder hilft ihr auf, wenn sie hingefallen ist.
Gerade jetzt ist sie allein unterwegs, während ich im Räucherschiff sitze und ihr nachschaue. Lioba schaut an Touristen hoch und Hunden nach. Ab und zu winkt sie, bleibt stehen, lächelt oder grüßt die Leute, mit ihrem hellen „Hallo!“. Die Gäste freuen sich schon den ganzen Tag über das kleine Mittelalter-Kind mit den strahlend blauen Augen.
Lioba umrundet die Pferdeäpfel, wie schon gefühlte hundert mal zuvor an der Hand von Elia. Sie geht weiter, kennt ihr Ziel und dreht sich nicht einmal um.
Schon bald steht sie vor der Strohburg, wo ältere Kinder ihr wildes Spiel treiben. Ich beobachte sie aus der Ferne.
Ebenso beobachte ich die Touristen. Ein paar sehen sich um, suchen vielleicht nach den Eltern. Lioba ist klar als Markt-Kind zu erkennen. Auf ihren Armen steht meine Handynummer und Sinnlich, der Name unseres Räucherschiffes, der über den halben Platz zu lesen ist; für den Notfall, der nicht eintrifft.
Auf die Entfernung wirklich Lioba selbstsicher. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, doch sie schaut sich nicht suchend um. Ihr Weinen würde ich hören.
Irgendwann hat sie genug davon, den älteren Kindern beim Spiel zuzuschauen. Sie kehrt um. Gemütlich, weiterhin alles in sich aufsaugend, geht sie den Weg zurück. Ungefähr. Mit ein paar Schlenkern. Der Hund vor einem Zelt ist ebenso interessant, wie das offene Kochfeuer vor dem Nächsten. Lioba hält großzügig Abstand. Sie weiß, dass das Feuer heiß ist. Auf fremde Tiere geht sie von sich aus nicht zu.
Am nächsten Morgen werden wir auf dem Weg zum Bäcker einer Katze begegnen. Auch dann wird sie erst die beiden älteren Jungen beobachten. Sie wird sehen, wie das Tier auf uns zu läuft, wie es sich von den Cousins streicheln lässt, ehe sie selbst so nah heran geht, um es streicheln zu können - glückselig, als die Katze es zulässt.
Lioba wächst mit Tieren auf und lernt, deren Raum zu respektieren und zu achten. Ich beobachte sie. Frei von Sorge sitze ich weiterhin im Räucherschiff, spreche zwischendurch mit Kunden.
Gerade noch mein Baby, nun ein kleiner Mensch auf Entdeckungsreise
Ich wunder mich nur, während mein Mädchen die letzten Meter schneller läuft, zielstrebig unser Schiff ansteuert. Sie lächelt, als sie mich dort oben am Verkaufsfenster erkennt. Allein kraxelt sie die hohen Stufen hoch, den Rest ihrer Brezel noch unter dem Arm (leicht mit Staub paniert). Niemand darf ihr helfen.
Wann ist sie so selbstständig geworden? Sie ist doch noch so klein! Genau heute gerade mal 16 Monate jung geworden. Wie ist es möglich, dass sie allein, selbstsicher dort draußen herumläuft und zurück nach Hause findet?
Ich spüre zugleich Sehnsucht nach meinem Baby und unendliche Dankbarkeit.
Jedes einzelne Mal, wenn ich beim kleinsten Schrei zu ihr laufe und sie wieder in den Schlaf stille. Jedes Mal, wenn ich sie auf den Arm mit mir nehme, weil sie ohne mich nicht sein mag. Jedes Mal, wenn ich inne halte, mit all meinen Sinnen wahrnehme, um zu erkennen, was dieser kleine Mensch mir mit seinem so begrenzten Wortschatz mitteilen möchte. Jedes Mal, wenn ich NICHT darauf gehört habe, als ich jemanden sagen hörte: „Du verwöhnst sie!“. All das zahlt sich nun aus. Wenn das überhaupt das passende Wort ist.
Das Ergebnis all meiner Liebe, Nähe und Zuneigung zu meiner Tochter, seit dem ersten Tag ihrer Geburt - und auch wenn ich selbst manches Mal erschöpft, frustriert und kraftlos geflucht habe - ist diese wundervolle, angstfreie Selbstsicherheit.
Sechszehn Monate, lasse ich mir in Gedanken auf der Zunge zergehen, und sie läuft allein zwischen wildfremden Menschen umher und findet den Weg zurück zu mir.
Wo ist mein Baby hin?
Da ist mein Baby!
Ah. Da ist es.
In der Nacht, wenn sie sich an mich kuschelt, von meiner Brust trinkt, meine Nähe und meinen Duft zum Schlafen braucht. Hier ist sie mein Baby.
Es ist eine unruhige Nacht. All die Erlebnisse des Tages wollen verarbeitet werden. Oft sucht Lioba im Halbschlaf nach meiner Brust, jammert, wenn sie diese nicht gleich findet. Sie braucht unmittelbaren Körperkontakt, um schlafen zu können.
Ich bin selbst hundemüde, liege unbequem, möchte einfach nur schlafen. Ihr dauerndes Genuckel nervt mich - doch nur ganz wenig. Wenn ich an den Tag denke, an mein kleines, selbstständiges Kind, lächel ich und kuschel mich noch etwas mehr an sie, ungeachtet der unbequemen Position.
Wie lange wird sie noch so bei mir liegen? Ein paar Monate? Ein Jahr? Etwas länger vielleicht?
Die Zeit wird so schnell vorbei sein. So schnell wird sie eigene Wege gehen, ohne zurückzublicken. Ich möchte jeden Moment genießen, in dem sie noch mein kleines Baby ist.
Dieser Artikel erschien am 09.09.2019 in der Erfahrungsschatzkiste.
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